Weihnachten gibt es seit rund zweitausend Jahren. Das Singen in Chören und Gruppen ist auch nicht neu und wird seit Jahrtausenden praktiziert. Gleichzeitig sind die ältesten nachgewiesenen Viren über drei Milliarden Jahre alt. Menschen und Singgruppen im viralen Umfeld gibt es also seit Menschengedenken und haben eine lange gemeinsame Kultur- und Krankheitsgeschichte.
Erst in jüngster Zeit konnten mit Impfungen Wege gefunden werden, ganze Gesellschaften vor verheerenden Folgen neuartiger Viruserkrankungen zumindest temporär zu schützen. Vorher mussten Infektionskrankheiten einfach irgendwie gemeinsam durchgestanden werden. Mit oder je nach Situation auch ohne "Social Distancing",
Eines der erfolgreichsten Beispiele der Impfgeschichte ist die Bekämpfung des Poliovirus‘, das die Kinderlähmungung verursacht hat und praktisch vollständig ausgerottet werden konnte. Das Virus hat in rund 1% aller Krankheitsverläufe verheerende Folgen und die Impfung ist geradezu ein Segen darin, Kinder vor schlimmen Auswirkungen wirksam zu schützen.
Schon damals wollten nicht alle Eltern ihre Kinder impfen lassen. Auch heute will oder kann sich ein Teil der Gesellschaft nicht impfen lassen. Leidtragende sind bekanntlich die Pflegenden in den Akutspitälern, die eine schier unerträgliche Arbeitsbelastung auf sich nehmen müssen, weil wieder vermehrt Menschen mit Komplikationen in den Intensivstationen behandelt werden müssen.
Erstaunlicherweise wird in der momentanen akuten Lage eher wenig über die unterschiedliche Gefährdung einzelner Gruppierungen in der Gesellschaft diskutiert. Vermutlich ist das Thema politisch einfach zu heikel. Zusätzlich hat ein medialer Hype das Virus zu einer allgemeinen Killermaschine grössten Ausmasses hochstilisiert, dabei ist seit Ausbruch der Pandemie seit fast zwei Jahren in der Schweiz gerade mal eine Person im Alter zwischen 10-20 Jahren am Virus gestorben; in meiner Altersklasse sind es knapp fünfzig Coronatote seit Februar 2020. Auch wenn jeder einzelne Todesfall für alle Betroffenen tragisch ist, darf doch auch festgestellt werden, dass das Virus zum Glück gerade für jüngere Personen in den allermeisten Fällen bisher immer noch keine extrem grosse Gefahr darstellt.
Was heisst diese Ausgangslage nun für das Singen im Chor? In jüngster Zeit konnte man leider wieder häufiger von Konzertabsagen und Verboten lesen. Die Bedingungen werden zunehmend wieder schwieriger. Muss singen in Pandemiezeiten als gefährlich eingeschätzt und daher grundsätzlich verboten werden? Schon ganz am Anfang der Pandemie waren in renommierten Zeitungen reisserische Artikel mit Titeln wie «Wenn singen tötet» zu Infektionsgeschehen in Chören zu lesen. Diese Art von Berichterstattung hat mich schon damals wütend gemacht. Man hätte gerade so gut schreiben können «Wenn Essen im Restaurant tötet», «Wenn Famlienfeiern töten» oder «Wenn Fussballspiele in Fankurven töten». Leider sind jedoch dort auf Grund der Annonymität oder berechtigter Privatsphäre häufig die Ansteckungsketten weniger bekannt oder das politische Lobbying ist wesentlich effizienter. Wenn man in den Biografien von Autorinnen und Autoren solcher Texte genauer nachforschen würde, würde man vermutlich häufig «persönliche Sing- und Familientraumas» vorfinden. Genau mit denselben diffusen Motivationen kann man zur Zeit regelmässig von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen in Zeitungen lesen, wie schön es doch sei, an Weihnachten mal nicht «O du Fröhliche» singen zu müssen. Sind das Zeichen eines kulturellen Wandels, die sich mit der Krise noch verstärkt haben?
Wir sind als Gesellschaft an einen Punkt angelangt, an dem das «Social Distancing» nach fast zwei Jahren Auswirkungen zeigt, die weit über das blosse Pandemiegeschehen hinausgehen. Heute habe ich einmal mehr gelesen, dass psychische Erkrankungen bei jungen Menschen massiv zugenommen haben sollen. Wie wird die junge Generation längerfristig auf die «Zeit der Einschränkung» reagieren? Welche Folgen wird sie sonst noch haben? Wie wird sich die politische Dynamik weiterentwickeln, die durch die Pandemie stark angeheizt worden ist?
Ich möchte hier eine vielleicht einseitige oder für viele gar provokative These aufstellen: Wir brauchen Tätigkeitsfelder wie das «echte Chorsingen» gerade jetzt mehr als je zu vor. In einer von Egoismus und Individualismus, von wirtschaftlichem Wettkampf und Pandemie geprägten Gesellschaft kann Chorsingen geradezu heilsam sein. Im Chor muss man aufeinander Rücksicht nehmen. Man singt miteinander oder für jemanden und nicht gegen einander. Jede und jeder muss sich beim gemeinsamen Singen in gewisser Weise einer Gruppe ja einer Welt zuordnen und sich integrieren; sowohl stimmlich als auch sozial und wenn man so wohl will sogar auch «gesundheitlich». Auch vor der Pandemie war es so, dass man dabei in Erkältungszeiten Viren von anderen aufschnappen konnte. Ein Chor ist in gewisser Weise dabei immer auch ein «Virenassimilator». Warum muss man das zwingend gerade bei jüngeren Menschen total negativ und gefährlich werten? Kann das Immunsystem auf diese Weise nicht auch trainiert und somit gestärkt werden? Vor der Pandemie war ich meistens ein- bis zweimal im Winter stärker erkältet. Letztes Jahr praktisch gar nicht; auch dann nicht, als ich postiv auf das Coronavirus getestet worden bin. Dafür durfte ich ein halbes Jahr lang keine einzige reale Chorprobe mehr leiten und meine Arbeit teilweise nicht ausführen. Mehrere meiner ehemaligen Chorleiterkollegen sind übrigens nach erfülltem Leben schon vor Jahren im höheren Alter immer noch arbeitstätig an einer Lungenentzündung gestorben. Was hätten sie gesagt, wenn man sie vor «die Qual der Wahl» gestellt hätte?
All dies zeigt: Unser Umgang mit dem Virus macht etwas mit uns. Wir verkriechen uns geradezu virenphobisch vermehrt in unseren vier Wänden und verzichten auf einen grossen Teil unseres sozialen Zusammenlebens. Während vor fünfzig Jahren in Chören noch Politik und Geschäfte gemacht wurden, geschieht das heute wenn überhaupt fast nur noch im Turnverein und auch der hat stark an Bedeutung verloren. Corona verschärft diese Tendenz zusätzlich.
Was ist nun schlimmer? «Das Chorsingen» oder «das Verschwinden des Chorsingens» in einer sich wandelnden Gesellschaft?" Das zweite ist meiner Ansicht nach mindestens so problematisch, weil ein «Verschwinden des Chorsingens» Symptom einer Gesellschaft sein könnte, die gefährdet ist, sich zunehmend zu entsolidarisieren und wo zusätzlich immer mehr Orte verschwinden, an denen sich Menschen unterschiedlichere sozialer Herkunft treffen und austauschen können.
In meinen Jugendchören sind übrigens die meisten längst geimpft. Auffallend ist auch, dass der Anteil Ungeimpfter unabhängig von Alter in meinen Chören immer etwa gleich hoch ist. Während in jungen Chören Ungeimpfte bisher immer noch mitsingen können, ist das bei kostenpflichtigen Tests in Erwachsenenchören schon länger viel weniger möglich.
Nein, singen ist nach wie vor nicht gefährlicher als viele andere soziale Tätigkeiten. Wir haben unsere Lektion gelernt und nehmen die Schutzkonzepte sehr ernst. Die Art und Weise jedoch, wie mit dem Phänomen Chorsingen bei uns teilweise umgegangen wird, sollte uns nachdenklich stimmen.
Frohe Weihnachten mit hoffentlich viel schönen Momenten, persönlichen Begegnungen mit oder ohne Musik! Ich hoffe auf eine milde Omikronvariante und ein weniger eingeschränktes Weihnachtsfest im Jahr 2022! Herzlichen Dank allen, die das Chorsingen auch in Krisenzeiten fördern und unterstützen!
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