Die Weihnachtsgeschichte oder die Passionsgeschichte zu kennen, gehört meiner Meinung nach zur Allgemeinbildung und zwar unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit. Schliesslich gehen unsere Feiertage und unzählige Kunstwerke und historische Denkmäler genau auf diese beiden Geschichten zurück. Kürzlich fragte ich eine Klasse: "Zu welchem Teil der Weihnachtsgeschichte gehört das "Ehre sei Gott in der Höhe" oder "gloria in excelsis deo?". Nach einem längeren Schweigen, das ich lieber nicht interpretiere, sagte schliesslich eine Schülerin: "Gehört das nicht zur Szene mit den Engeln und Hirten?"
Vor vielen Jahren hat sich eine umgekehrte Szene abgespielt. Ich besprach mit einer Klasse damals im Frühjahr die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach und wir diskutierten in diesem Zusammenhang über die Passionsgeschichte. Plötzlich streckte eine Schülerin auf und fragte: "Glauben Sie an Jesus?" Diese Frage brachte mich damals total aus dem Konzept und nach einer kurzen Pause sagte ich impulsartig: "Nein, ähh....ich meine...Ja....! Das kann ich jetzt so schnell nicht beantworten."
Dass ich in diesem Moment persönlich nicht klar Stellung beziehen konnte, beschäftigt mich bis heute. Jetzt, ca. 10 Jahre später, würde ich anders antworten, oder besser gesagt, ich würde immer noch gleich antworten, mich aber durch diese Frage weniger irritieren lassen: "Ja und nein. Das ist eine sehr persönliche und schwierige Frage. Wenn Sie möchten, können wir zu diesem Thema mal gemeinsam in der Cafeteria einen philosophischen Kaffee trinken. Kommen Sie, wenn Sie wollen, auf mich zu." Ich denke nicht, dass die Schülerin das dann wirklich gemachte hätte, aber wer weiss...?
Die Frage des Glaubens ist wirklich eine sehr persönliche Frage und ich denke es ist richtig, wenn heutzutage jede und jeder mit sich selbst ausmachen kann, ob und was er glaubt. Aber es hilft gerade in Zeiten, in denen wir jetzt gerade stecken, sich mit der wichtigen Frage des persönlichen Glaubens auseinanderzusetzen, weil sie uns an grundlegende, existenzielle Themen heranführt. Im letzten Frühjahr hat ein Basler Theologieprofessor einen tollen Text zum Thema Ostern verfasst, in dem er unter anderem über Gottesbilder schrieb. Geblieben ist mir das Bild eines Gottes, der mit uns ist und uns auf unserem Weg begleitet. Ein Gottesmodell, das mich bis heute nicht mehr losgelassen hat.
Wenn man sich Gott im alten Testament genauer betrachtet, trifft man dort oft einen personifizierten, gewaltigen, strafenden, herrschenden Gott an. Im neuen Testament ändert sich dieses Bild schlagartig. Man könnte fast von einer Kulturrevolution sprechen. Mit der Geschichte von Jesus kommt dort nämlich Gottes Sohn auf die Welt und ist plötzlich einer von uns oder eben mit uns. Er freut sich mit uns, er leidet mit und wegen uns und er befreit uns vor dem individuellen Tod. Unabhängig davon, ob man jetzt an Jesus glaubt oder nicht, ist das eine unglaublich starke und gute Geschichte, die mit gewissen Ähnlichkeiten übrigens auch im Koran vorkommt. Egal, ob Jesus nun Philosoph, Prophet oder eine Gottesgestalt war, ist seine Geschichte ein Modell dafür "mit Gott zu leben". Selbstlos, den Nächsten liebend, gewaltlos, nicht materialistisch, für seine humanen Werte einstehend, aufopfernd bis in den Tod. Natürlich ist dieses extreme Lebensmodell eine Art Utopie. Aber sie dient dazu, uns das "Leben mit Gott" näher zu bringen.
Leben mit Gott heisst konsequenterweise meiner Meinung nach auch leben und sterben mit Corona. Ich glaube nämlich nicht, dass Corona in irgendeiner Form "göttlich gesteuert" ist. Wir können versuchen, die Pandemie zu steuern, aber seien wir ehrlich: Das Virus steuert eher uns. Aber ist denn wirklich relevant, wer wen steuert?ˆ
Corona ist ein Teil dieser Welt geworden und somit nach meiner eher pantheistischen Weltauffassung auch ein Teil von Gott und unserer Existenz. Daher ist für mich viel naheliegender, "mit" Corona zu leben oder zu sterben als die Krankheit aus meinem Leben zu verbannen. Die ersten Symptome sind über eine Woche her. Bisher ist die Krankheit bei mir sehr glimpflich abgelaufen. Ich bete (oder meditiere?) und hoffe, dass das so bleibt und weiss, Gott ist mit uns. So oder so. Nun kann ich mir besser vorstellen, was es für stark gläubige Menschen wie Johann Sebastian Bach bedeutet hat "im Glauben zu leben".
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