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Autorenbildjuergsiegrist

Virtuelle Musikwelten


Der Begriff "virtuell" geht auf das Lateinische Wort "virtus", das im Frühlatein Mannhaftigkeit oder Tugend und später "Wunderkraft" bedeutet hat, zurück. In neueren Definitionen bedeutet virtuell "von unwirklicher Form", "von einem Computer simuliert" oder "im Internet existent". Heute wird der Begriff häufig in Zusammenhang mit der "Fähigkeit im Internet präsent zu sein" verwendet. Die Haltung über die Frage, wie die neue "virtuelle Welt" und die wirkliche Realität zusammenhängen, gehen zur Zeit stark auseinander. Für die einen ist der Mensch auch im Internet gut repräsentiert und es wird sogar teilweise fast missionierend über das Potential des "menschlichen Algorithmus" und "künstlicher Intelligenz" gesprochen, die im Ursprung ja auch vom Menschen abstammen würden. Für andere wiederum ist das Internet nur eine Scheinwelt, die teilweise vorgibt oder vorrechnet etwas zu sein, das es in der Wirklichkeit häufig so gar nicht gibt. Wahrscheinlich liegt die Antwort zur Frage, was "virtuell" bedeutet, irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Seit über acht Wochen findet nun mein Unterricht ausschliesslich virtuell statt. Die Musikstunden werden nicht in einem Unterrichtszimmer sondern ausschliesslich via Internet durchgeführt. Musik wird dabei zum Glück oft nicht virtuell erzeugt, sondern findet häufig immer noch vor Ort "live" statt und wird nur via Internet übermittelt. Bei Versammlungsverboten von über fünf Personen, versteht sich von selbst, dass Musikproduktionen dabei nur in kleineren Besetzungungen möglich sind. Es ist die Stunde der Kammer- und Hausmusik. Grössere Ensembles können sich zur Zeit nur noch virtuell treffen und haben nicht die Möglichkeit, aktiv gemeinsam zu konzertieren. Es gibt zwar bereits mehrere virtuelle Plattformen für grössere Ensembles im Netz, auf denen virtuelle Chöre, Orchester und sonstige Grossformationen gemeinsam auftreten können. Gemeinsam ist hier aber in einem echt virtuellen Sinn gemeint; im Endeffekt sind es virtuell, mit Computerhilfe zusammengestellte Ensembles und nicht reale Grossformationen, die an diesen Konzerten auftreten.

Was heisst das nun für einen virtuellen Musikunterricht in einer Schulklasse? Auch hier ist Klassenmusizieren nicht mehr möglich. An Stelle eines echten Opernbesuchs musste ich auf eine Aufzeichnung von Figaros Hochzeit der Salzburger Festspiele zurückgreifen; meiner Meinung nach eine immerhin schöne Aufzeichnung. Gemeinsame Musikproduktionen sind nur mit Mehrspuraufnahmen, die mit neuartigen Plattformen wie "Soundtrap" sogar direkt auf dem Netz von mehreren Orten aus gleichzeitig aus erstellt werden können, möglich. Das private Musizieren in den eigenen vier Wänden wird plötzlich viel sicht- und hörbarer. Dabei habe ich schon einige sehr schöne Überraschungen erlebt, indem Schülerinnen und Schüler musikalische Seiten von sich gezeigt hab, die ich vorher noch nie so wahrgenommen habe.

Bei allen spannenden Erfahrungen, die ich zur Zeit gezwungenermassen mache, darf aber eines nicht ausser Acht gelassen werden. Das ganze echte Musizieren in der Klasse hat sich aufgelöst und findet nur noch virtuell und nicht wirklich statt. Das bedeutet auch, dass man weniger aufeinander eingehen muss und jederzeit die Kamera ausschalten oder sich hinter Netzwerkproblemen verstecken kann. Konflikte und Reibungen können so sehr einfach virtuell weggeknipst und nicht zwingend ausgetragen werden. Eine gegenseitige Rücksichtsnahme ist nicht mehr wirklich nötig, der Computer entfremdet uns und wir können nach Belieben fluchen, beschimpfen, entwürdigen, spucken, schreien, schlagen, kreischen, stummschalten, abschalten, abkassieren, betrügen, belügen; oftmals ohne dadurch reale Konsequenzen tragen zu müssen.

Die virtuelle Welt als Plattform und Austausch der realen Welt kann für alle eine riesen Chance und Bereicherung bedeuten aber wehe dem, der damit andere oder gar sich selber unwissentlich oder wissentlich belügt und betrügt....dann kann sie schnell zu einem Fluch werden..."Besen, Besen! Seid‘s gewesen."...Virtus: Tugendhaftigkeit oder Quacksalberei...?




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