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Autorenbildjuergsiegrist

Ukraine: Das Land der Chormusik

Aktualisiert: 8. Dez. 2023


Sie liegt im Herzen von Europa und steht seit Jahrhunderten im Spannungsfeld Europäischer Machtverhältnisse und…. auch Chormusik hat in der Ukraine seit Jahrhunderten eine grosse Bedeutung. Vor allem in der orthodoxen Kirche hat sich eine eindrückliche, starke Chortradition entwickelt, die vermutlich tief im Bewusstsein der Bevölkerung verwurzelt sein dürfte. Chorsingen hat in der Ukraine bis heute einen grossen Stellenwert und bis vor Kurzem reisten hervorragende Vokalensembles regelmässig nach Westeuropa und zeugten auf eindrückliche Weise von dieser starken Tradition.

Die Biografien ukrainischer Chorkomponisten sind oft ähnlich. Ihr Wirkungskreis zieht sich über Ostdeutschland bis nach Russland, wo sie häufig in kulturellen Zentren wie St. Petersburg ausgebildet worden waren. Orthodoxe Gesänge sind daher von Ostdeutschland bis nach Russland in vielen Kirchen anzutreffen. Ich war nicht schlecht erstaunt, als ich vor Jahren in Usedom mit dem Kammerchor des Gymnasiums einen Gottesdienst mitgestaltet habe und feststellen musste, dass sich die Gottesdienstgestaltung auch dort stark an die orthodoxe Kirche anlehnt und ein östlicher Einfluss stark spürbar wird. Die kulturellen Grenzen sind oft weniger scharf als Landesgrenzen uns vormachen wollen.

Das Stück «Gebet für die Ukraine» von Mykola Lysenko wird in der Ukraine häufig am Schluss eines Gottesdienstes gesungen und ist daher landesweit bekannt. Der Komponist des Lieds hat in Kiew Biologie und später in Leipzig und St. Petersburg Musik studiert. Er stammte aus einer gut situierten Familie und hatte einen starken Bezug zu seiner Heimat. Auf Grund seiner Nähe zur ukrainischen Kultur musste er schon vor über hundert Jahren Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen. In Russland war dieser Nationalstolz schon damals nicht gern gesehen. Während der russischen Revolution landete er sogar für kurze Zeit im Gefängnis und gründete kurz darauf in Kiew eine eigene Schule. Sein Denkmal steht unmittelbar vor der Oper in Kiew, wo jetzt die Strassen verwüstet und menschenleer sind.

Ähnlich wie die Ukraine hat auch die Schweiz eine konfliktreiche, blutige Geschichte. Sie war auch lange Schauplatz von Kämpfen zwischen Europäischen Grossmächten und hatte gleichzeitig ein historisch gewachsenes starkes, eigenständiges Bedürfnis nach Autonomie. Die heutige, moderne Schweiz ist eigentlich nach einem Konzept von Napoleon entstanden und wurde von den Siegermächten am Wienerkongress im 19. Jahrhundert glücklicherweise in ihrer Autonomie gestärkt. Dies war der Grundstein einer äusserst positiven Entwicklung, die schliesslich vor rund 175 Jahren mit der Bundesverfassung besiegelt worden ist.

Ein wichtiger Faktor dieser Dynamik war die von Anfang an festgelegte Neutralität der Schweiz. Sie war der Garant dafür, dass Grossmächte sich nicht mehr durch die Schweiz bedroht sahen oder sie zum Zankapfel machten. Auch die Ukraine im Herzen von Europa kann sich offensichtlich ohne schweren Konflikte keinem gewichtigen militärischen Bündnis anschliessen. Wo ist nun der Kongress, der der Ukraine eine unabhängige, eigenständige Weiterentwicklung, wie es im Falle der Schweiz geschehen ist, ermöglichen kann? Ist das Wunschtraum oder eine mögliche Chance?

Die westliche Welt rätselt darüber, warum Russland den radikalen Weg des Kriegs gewählt hat. Vermutlich hat eine gewisse coronabedingte Isolation und gleichzeitig erkaltete, diplomatische Beziehungen wesentlich zur momentanen verheerenden Entwicklung beigetragen. Insofern muss das diplomatische Boykott der Olympischen Spiele in Peking nach zwei Jahren coronabedingter Funkstille als verpasste Chance betrachtet werden, den persönlichen Austausch zwischen Ländern aller Welt wieder vermehrt zu pflegen. Das hätte ja durchaus auch der olympischen Idee entsprochen.

Nun hat die Eskalationsspirale zu drehen begonnen. Schuldige dafür sind schnell gefunden, aber das scheint bisher auch nicht wirklich zu helfen. Vielmehr sollten dringend notwendige diplomatische Beziehungen wieder aufgenommen werden, um weitere Eskalationen zu vermeiden.

Viele Menschen sind schockiert über den Krieg in der Ukraine und schauen mehr oder weniger hilflos zu, wie sich der Teufelskreis immer weiter dreht. Gewaltfreie Lösungen sind immer möglich, ist jedoch eine gewisse Eskalationsstufe bereits erreicht, ist es schwierig, dem Teufelskreis wieder zu entrinnen. Der Ausgang der Geschichte ist zur Zeit äusserst ungewiss und das vor allem zum Leidwesen eines wunderbaren, hoffnungsvollen Landes im Herzen von Europa mit einer wundervollen, schier grenzenlosen Chortradition.

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