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Autorenbildjuergsiegrist

Mendelssohns Motette Op. 69 No 1 Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie



Dieser Satz von Ludwig van Beethoven hat für mich bis heute nichts an Bedeutung verloren. Es gibt für mich Werke, die über einen fast unfassbaren inneren Kern verfügen, die uns auf ganzheitlich menschlichen Ebenen erreichen können, wo Sprache keinen Zugang mehr findet. Wir sind mehr als nur das, was wir sprechen, schreiben oder berechnen können und Musik ist eine Kunstform, wo das für uns immer wieder von Neuem erlebbar wird.

Ein Komponist oder Künstlerin, der oder die die Fähigkeit hat, eine universelle Dimension in seinen Werken und seinem Wirken in hoher Qualität zu erreichen, hat meine grösste Bewunderung und ich bin überzeugt, dass dies mehr als nur mit kultureller Prägung oder blossem westlichem Elitarismus zu tun hat. Jeder Mensch hat meiner Ansicht nach die Fähigkeit, die universelle Dimension der Musik oder der Kunst allgemein für sich zu entdecken, wenn er dabei nur die richtigen, naturgegebenen Antennen ausfährt.

Nun gibt es Stücke, die gewissen Personen näher liegen als andere. Dem einen kann es nicht genug Pathos haben. Andere mögen es eher leicht und luftig, wiederum andere dunkel und schwer. Manchmal ist unser Geschmack auch stimmungsabhängig. Die Motette Op 69 No 1, die ich mit dem Kammerchor im Casino am 25.8.2021 aufgeführt habe, ist ein Werk, das mich seit Jahren klanglich unglaublich fasziniert. Teilweise kann ich mir diese Faszination erklären, teilweise auch nicht und ich weiss, dass gewisse Zeitgenossinnen und Zeitgenossen durch Wörter wie «Volk Israel», «Herr» oder «Heiland», die in diesem Werk vorkommen, bei einer Aufführung vermutlich eher unangenehm berührt sein könnten.

Das Grundthema des Stücks ist jedoch ein anderes als der blosse Text und wie bei vielen Kunstwerken muss man etwas tiefer gehen, um sich das Werk genauer zu erschliessen. Im Kern des Stücks geht es für mich um das Loslassen-Können oder genauer, sich selbst loszulassen. Ein menschliches Gefühl oder Bedürfnis, das wir alle kennen. Nur durch Loslassen entsteht wirkliche Gelassenheit und es gibt Situationen im Leben, in denen wir gar keine andere Wahl haben, als loszulassen, und sei es nur für einen erholsamen Schlaf.

Ich bin jedoch überzeugt, dass Mendelssohns Intention in diesem Werk noch weiter ging. Er schrieb die Motette im Juni 1847. Kurz zuvor war seine Schwester Fanny Mendelssohn völlig überraschend mitten in einer Probe an einem Schlaganfall gestorben. Die Beziehung zu seiner Schwester war derart intensiv, dass dieses Ereignis für ihn eine grosse Erschütterung gewesen sein muss. Wie verarbeitet man den Tod eines geliebten Menschen? Wie kann man ihn loslassen?

Der Text der Motette handelt vom Propheten Simeon, der sein Leben lang auf den Erlöser gewartet hat. Erst als er in einem neugeborenen Kind diesen Erlöser zu sehen glaubt, kann er wirklich im Moment leben und seinen eigenen Weg weitergehen, frei von Todesängsten. Genau in diesem Moment spricht er das «Nunc Dimittis» oder eben «Herr, nun lässest du Deinen Diener in Frieden fahren». Mendelssohn vertont diese Situation in einer schlichten, intensiven Ruhe gepaart mit einer ausgesprochen starken Zuversicht, wie sie auf diese unaussprechliche Weise meiner Meinung nach nur musikalisch zum Ausdruck gebracht werden kann.

Seit ich als Kind Bachchoräle am Klavier zu spielen begonnen habe, faszinieren mich Klänge wie diese. Niemand hat mir damals gesagt, ich soll das tun. Ich habe das für mich getan und dabei schon früh für mich persönlich neue Dimensionen des musikalischen Ausdrucks gefunden.

Bin ich damit ein Produkt eines elitären Ausbildungssystems? Muss ich mich dafür schämen? Wen interessieren heute noch Bach-Choräle? Mich interessieren sie, weil ich mich auch heute mit Hilfe dieser Musik in neue, mentale Zustände eines tieferen Verständnisses bringen kann. Erst wenn das möglich wird, fühle ich mich wirklich erfüllt und genau diese Faszination mit Schülerinnen und Schülern zu teilen, ist einer der Gründe, weshalb ich meinen Beruf bis heute liebe.

Auch heute gelingt es uns im Kammerchor aber auch andernorts immer wieder, in diese schier unerklärlichen Klangwelten des musikalischen Ausdrucks vorzustossen. Was dann zählt, ist der pure Augenblick und die Welt scheint für einen kurzen Moment stillzustehen. Ja, wir sind mehr als blosse Virenpfuhle.

Felix Mendelssohn starb wenige Monate nach dem Tod seiner Schwester völlig überraschend an einem Schlaganfall im Alter von 38 Jahren. R.I.P.


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