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Autorenbildjuergsiegrist

"Hit the road Jack!" In der Flut des Internets

Aktualisiert: 31. Mai 2020



In den letzten Jahren hat das Phänomen "Tutorial" auf YouTube einen grossen Zuwachs erhalten. Zu jeglichen Themen können per Mausklick filmische Ratgeber konsultiert werden. Die Qualität der Beiträge ist dabei enorm unterschiedlich und wird oft nur wenig diskutiert. Dabei fällt auf, dass häufig gute Aufmache und Präsentation fachlichen und inhaltlichen Qualitäten vorgezogen werden.

Vor einigen Jahren hatte ich eine Schülerin, die eine praktische Arbeit im Bereich Musikpädagogik machen wollte. Da sie auch Klavierunterricht besuchte, war ihre Idee, eine einfache Klavierschule für Kindergartenkinder zu schreiben. Die Kinder sollten dabei spielerisch mit einfachen Notenleseübungen ans Klavierspielen herangeführt werden. Als Vorlage dienten Volks- und Kinderlieder. Die Übungen erprobte sie auch in einem Kindergarten. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass die Kinder schnell überfordert waren. Schon einfachste Melodien scheiterten an den kleinsten melodischen Sprüngen. Die Kinder gaben ohne Anleitung schnell wieder auf. Um ihnen die Frust des Misserfolgs zu ersparen, entschloss sich die Schülerin, die Melodien zu vereinfachen und nur Tonleiterbewegungen einzusetzen. Eigentlich war das ja keine schlechte Idee; was mich aber sehr erstaunt hat war die Tatsache, dass dabei gängige Volkslieder hemmungslos abgewandelt wurden und in den Übungen "Fuchs du hast die Gans gestohlen“ plötzlich wie "alle meine Entchen" klang. Interessanterweise kam die Schülerin dabei überhaupt nicht auf die Idee, dass das ein Problem darstellen könnte. Ein Phänomen der neuen "Youtubegeneration"?

Musikalisch wurde ich noch von einer Ausbildung geprägt, in der Quellenbezug ein wichtiger Bestandteil war. Es ging immer auch darum, sich mit der ursprünglichen, möglichst authentischen Bedeutung eines musikalischen Werkes auseinanderzusetzen. Das funktioniert übrigens in allen Stilbereichen. Vereinfachungen und unbegründete Abwandlungen können, wenn sie nicht klar als solche deklariert werden, ein Werk in falschem Licht darstellen und ungewollt verfälschen.

Am Beispiel von Hits wie "Hit the road Jack!" möchte ich zeigen, dass Simplifizierungen oder gar Fehlzuordnungen im Netz omnipräsent sind. Ich begegne immer wieder Schülerarbeiten, in denen plötzlich Glenn Gould das Wohltemperierte Klavier, und Daniel Barenboim die Mondscheinsonate komponiert haben sollen... Interpreten werden mit Komponisten verwechselt, weil Internetquellen leider oft schlecht dokumentiert sind. Wie klingt nun aber eigentlich das Original von "Hit the road Jack!"?

Hören wir uns mal eine der gängigsten, ursprünglichen Versionen an:


Auf den ersten Blick wirkt das Stück banal, weil andauernd dieselben Akkorde gespielt werden. Wenn man sich den Klavierpart jedoch mal genauer anhört, merkt man, dass die Akkorde verfremdet sind, und Ray Charles mit typisch jazzartigen "Extensions" arbeitet. Es ist gar nicht so einfach, diese originalgetreu nachzuspielen. Ray Charles war eben nicht nur eine Hitmaschine sondern auch ein guter Jazzer mit einem phänomenalen Gehör und Gespür für Klänge und Harmonien.

Als Vergleich nun eines der beliebtesten "Tutorials" dieses Songs mit über 140‘000 Zugriffen:


Mit der ursprünglichen Fassung von Ray Charles hat das nur wenig zu tun. Die Akkorde werden als Dreiklänge parallel hin- und hergeschoben, was einer "alle meine Entchen"-Version eines im Original durchaus noch spannenden Voicings gleichkommt.

Ich habe versucht, Informationen auf dem Netz zum Originalvoicing zu finden, und trotz längerer Suche nichts gefunden. (Wer was findet; ich lasse mich gerne belehren...) Jamie Foxx (als schwarzer Musiker und Schauspieler für diesen Film eine ideale Besetzung) spielt jedoch im Film "Ray" genau das Originalvoicing; also müsste

es doch eigentlich auch Informationen dazu geben....


Mittlerweile habe ich nach etwas pröbeln den "originalen Sound" auch besser drauf. Ray Charles lässt oft die Terzen der Akkorde weg und arbeitet fast nur mit „Extensions". Wenn man das beachtet, entsteht ein echter Jazzsound und kein Schulmusik- oder Youtubeabklatsch.....Ich wünschte mir inständig mehr echte, fachlich fundierte Qualitätsdiskussionen im Netz der unbeschränkten Möglichkeiten....andernfalls laufen wir Gefahr, dass interessante, differenzierte Errungenschaften in der Flut des Internets weggespült werden.


P.S. : Ein Schüler hat tatsächlich die Originalfassung gefunden:



Mit etwa 200 Zugriffen....


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