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Autorenbildjuergsiegrist

Grossmutters Tod

Aktualisiert: 7. Dez. 2020


Es ist schon viele Jahre her. Das Telefon kam völlig überraschend. Meine Mutter sagte: "Ich habe eine traurige Nachricht. Heute Morgen ist Grossmutter gestorben. Das Personal fand sie nach dem Morgenessen tot in ihrem Zimmer. Wir sind gleich losgefahren. Sie liegt nun immer noch dort; wenn du möchtest kannst du sie heute noch einmal sehen. Das Zimmer wurde abgeschlossen, du kannst einfach beim Personal nachfragen."

Einige Stunden später sitze ich im Zimmer des Pflegeheims, wo meine Grossmutter ihre letzten Jahre verbracht hat. Ich habe schon seit längerem keinen toten Menschen mehr gesehen. Wenn ich sie im Bett anschaue, liegt sie da, als ob sie schlafen würde. Es ist ruhig im Zimmer; fast so, als ob Frieden eingekehrt wäre. Ja, sie sieht so aus, als ob sie zufrieden schlafen würde. Nach einiger Zeit ändert sich jedoch meine Wahrnehmung. Ich sitze in einem Zimmer mit einem leblosen Körper. Meine Grossmutter lebt nicht mehr und ich fühle, dass sie körperlich nicht mehr anwesend ist. Einige Jahre zuvor war sie zuhause unglücklich gestürzt und hatte sich einen Knochenbruch zugezogen, als sie auf dem Gehsteig vor dem Haus einen Teebeutel auflesen wollte, den Sie versehentlich zum Fenster hinaus geworfen hatte. Als ich sie kurz darauf im Spital sehe, erkenne ich sie kaum wieder. Sie sitzt apathisch in einem Rollstuhl einer geriatrischen Abteilung. Damit sie den Stuhl nicht verlassen kann, wurde vor ihrem Oberkörper zwischen beiden Stuhllehnen ein Brett gespannt. Meine Grossmutter war eine bewegungsfreudige Frau. Zeitlebens hat sie in Frauenturngruppen mitgeturnt. Es machte ihr offensichtlich Mühe, plötzlich von einem Tag auf den anderen aus ihrem gewohnten Leben gerissen worden zu sein. Als aufopfernde Hausfrau hatte ihr die Familie immer sehr viel bedeutet. Nach der Pensionierung waren die Grosseltern daher von Bern in die Nähe ihrer einzigen Tochter in die Region Basel gezogen. Sie wohnten nur wenige Meter von unserer Haustür entfernt in einem kleineren Mehrfamilienhaus.

Plötzlich kommt strahlend und fast ungestüm ein Assistenzarzt auf uns zu und sagt: "Die Blutwerte haben sich stabilisiert. Es geht ihr deutlich besser als bei ihrem Eintritt." Sie jedoch sitzt immer noch vornübergeneigt im Rollstuhl und ist nicht ansprechbar. Nach einer Weile wacht sie auf und sagt: "Lasst mich in Ruhe, ich möchte nach Hause." In ihre Wohnung wird sie jedoch nie mehr zurückkehren können.

Einige Monate später besuche ich sie im selben Altersheim, wo wenige Jahre zuvor die Mutter meines Vaters ihre letzte Zeit verbracht hatte. Sie sitzt immer noch im Rollstuhl ist aber deutlich besser ansprechbar. Ich kann mich noch gut an ihre starke Unzufriedenheit erinnern; sie kommt mit der neuen Situation am Anfang nicht gut zurecht. Mein Grossvater wohnt nun alleine in der gemeinsam eingerichteten Wohnung. Auch er ist mürrisch. Gekocht hat er nie und für den ganzen Haushalt war bis zu ihrem Unfall immer meine Grossmutter zuständig. Die neue Situation überfordert ihn und so tritt er einige Zeit später ins gleiche Altersheim wie die Grossmutter ein.

An einem schönen Frühlingstag besuchen wir sie. Im Rollstuhl begleiten wir die Grossmutter in den Garten des Altersheims. Mir ist nicht wirklich klar, wie häufig sich die beiden noch sehen und so beschliesse ich, den Grossvater, der zu dieser Zeit noch gut auf den Beinen ist, zu fragen, ob er auch mit runter kommen wolle. "Stefan, komm setz dich zu mir" sagt die Grossmutter kurz darauf und dann sitzen sie einfach da, händchenhaltend wie ein frischverliebtes Paar. Als ich kurz ihr andere Hand halte fährt sie mich an: "Was machen Sie? Lass Sie mich los!" Mein Grossvater muss herzhaft lachen. "Kann ich euch was bringen?" frage ich. "Bringen Sie mir bitte einen Kaffee, danke", sagt die Grossmutter. Sie kann ihn nur noch mit Röhrchen im Plastikbecher trinken.

Einige Zeit später wird sie bettlägerig. Jedes Mal, wenn ich sie besuche, kennt sie nun jedoch nach einiger Überlegung meinen Namen. Wirklich sprechen kann sie jedoch nicht mehr. Eines Tages beginne ich zu singen "Dört äne am Bärgli..." und sie antwortet "wissi Geiss". Das wird zu einem festen Ritual bei meinen Besuchen. An einem guten Tag singt sie mir auch Bruchstücke anderer Lieder vor "Röslein auf der Heiden...aber am Abend, aber am Abend..." ich kenne nicht alle Liederfetzen, die sie mit mir singen will. Es ist ruhig im Zimmer meiner Grossmutter. Ihr Gesang ist für immer verstummt. Das Singen war eine unserer letzte Brücken. Zur Zeit stirbt jede zweite Person an Corona in einem Altersheim. Im Jahre 2020 dürfte ich wahrscheinlich meine Grossmutter häufig gar nicht besuchen. Das Singen in Gruppen ist seit Ende Oktober im Gegensatz zu Shopping und Skifahren fast überall verboten. Das Parlament sang gestern Ueli Mauer zum Teil ohne Masken unreflektiert ein spontanes Geburtstagsständchen, was die Spezialistin vom BAG später an der Pressekonferenz als "keine Superidee" bezeichnet hat. ...seltsame Szenen...seltsame Zeiten.....




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