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Autorenbildjuergsiegrist

Eric Whitacres Klangwelten in Basel

Aktualisiert: 28. Feb. 2023


Laut seinen eigenen Aussagen ist er erst im Erwachsenenalter mit klassisch komponierter Musik in Berührung gekommen. Die grosse Fuge der c-Mollmesse von Mozart sei für ihn ein Meilenstein in der persönlichen Entdeckung von Chormusik gewesen. Mit sehr viel Sinn für Klangfarben und Clusterklängen kann mehrschichtige Polyphonie jedoch nicht unbedingt als sein künstlerisches Spezialgebiet bezeichnet werden.

Eric Whitacre schreibt Musik für Menschen und macht dabei überhaupt keinen Hehl daraus. Im Vordergrund seiner Kompositionen steht die klangliche Wirkung und in gewissem Sinne auch Schönheit. Seine Werke sind homogen, berührend, schlicht, ausgewogen und nie provozierend oder verstörend.

Kürzlich sagte ich einer Bekannten, dass ich persönlich keine solche Musik schreiben könnte. Es fällt mir zwar nicht schwer, sogenannte Gebrauchsmusik zu schreiben und zusätzlich habe ich schon einige Stücke quasi funktional auf eine bestimmte Situation oder auf ein bestimmtes Ensemble zugeschrieben. Insofern kann man mich jedoch durchaus als «Komponisten» bezeichnen, da andere mit ähnlichem Profil es mir gleich tun. Der Umfang und Anspruch meiner Werke ist jedoch eher klein und ich sehe mich nicht in derselben Gilde wie ein Pierre Boulez oder Rudolf Kelterborn, weil diese doch in einem wesentlich höheren Anspruch und Umfang studiert und komponiert haben und sich viel eher in der Tradition der «Klassischen Komposition» gesehen haben. Als ich vor einigen Jahren einen Bündner Chorleiterkollegen explizit auf Pierre Boulez angesprochen habe, hat dieser geantwortet: «Dr Pierre Boulez isch im Bünderland nid so nes Thema.» Zu meinen Studienzeiten in Basel wurde jedoch bei der Theorielehrerschaft genau dieser Komponist regelrecht auf einen Thron gehoben und nicht wenige Zeitgenossen hatten grossen Respekt vor seinem Schaffen. Ist das aus heutiger Sicht damals nur trendiger Schall und Rauch gewesen?

Auf meinem Schreibtisch liegen zur Zeit zwei neue Chorsammlungen mit neuer Schweizer Chormusik «im Volksliedton». Der Projektleiter spricht im Vorwort von «herausragenden Arrangements aus allen Sprachregionen der Schweiz». Beim durchblättern fällt auf, dass dabei eher wenig wirklich etablierte Komponistennamen der Schweiz zu finden sind. Immerhin haben Albert Möschinger (hat 5 Sinfonien geschrieben) und Othmar Schoeck (Schrieb mehrere Opern) auch noch einen Platz in dieser Sammlung gefunden. Gäbe es jedoch nicht noch andere Schweizer «Vollblutkomponistinnen und Komponisten», die in ihrem Schaffen auch anspruchsvollere Volksliedsätze und Chorstücke geschrieben haben? Am Europäischen Jugendchorfestival im Frühjahr wird die Sammlung ein erstes Mal präsentiert. Wir dürfen gespannt sein.

Wäre ein vergleichbarer internationaler Erfolg eines Eric Whitacre bei einem Europäischen Komponisten oder einer Komponistin mit dieser Vorgeschichte auch möglich? Vermutlich nicht. Die Kompositionsschulen in Europa sind immer noch derart stark in der «ernsten Musik» verankert, dass eine Kompositionsweise, wie Whitacre sie in den U.S.A. entwickelt hat, an einer europäische Hochschule vermutlich nicht unbedingt verfolgt und goutiert würde.

Somit bleibt die neue Chormusik Europas gleichzeitig häufig bedeutungs- und orientierungslos. Entweder ist sie derart abstrakt und anspruchsvoll, dass sie nur schwer zugänglich ist, oder orientiert sich stark am volkstümlichen Gebrauch und bleibt somit eher belanglos und beliebig austauschbar.

Gewisse Kreise der Europäischen Kompositionsgilde stehen zusätzlich einem eher gefälligen Stil eines Eric Whitacre kritisch gegenüber. Gleichzeitig kenne ich wenig Chorkompositionen, die in kurzer Zeit in ähnlichem Mass in der Szene international derart rasch Fuss gefasst haben wie sein Stil. Die Menschen finden sich in Whitacres Music wieder, tauchen darin ein und machen damit intensive Klang- und Chorerlebnisse. Damit erreicht der Komponist genau das, wovon viele fast nicht zu träumen wagen: Die Menschen und ein weltweites Publikum.

Für mich besteht schon länger der Wunsch, dass wir uns in der Schweiz intensiver darauf besinnen, welche Chorkompositionen in Zukunft weiter gepflegt und etabliert werden sollten. Es gibt auch bei uns unglaublich viele qualitativ wertvolle Schätze zu entdecken, die weit über Gebrauchsmusik hinausgehen. Leider sind Schweizer Komponistinnen und Komponisten oft nicht wirklich motiviert, sich stark zu promoten. Oder diejenigen, die sich gut verkaufen, vertreten nicht zwingend die beste Qualität. Hier besteht durchaus noch viel Entwicklungspotential und wir könnten uns durchaus etwas mutiger für gelungene neue Eigenkompositionen einsetzen, damit in Zukunft nicht nur Eric Whitacre sondern auch Stücke von Rudolf Moser, Rudolf Jaggi, Ernst Pfiffner, Caroline Charrière und vielen anderen häufiger aufgeführt und öffentlich wahrgenommen werden.


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