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Autorenbildjuergsiegrist

Eigenkultur

Aktualisiert: 10. Feb. 2023



Er ist omnipräsent, der negativ besetzte Begriff der «kulturellen Aneignung». Muss kulturelle Aneignung denn zwingend als diskriminierend verstanden werden? Müssen wir uns nicht alle so oder so mit Kultur befassen und uns im Leben kulturelle Eigenschaften aneignen oder zumindest mit solchen umgehen lernen? Jeder Mensch hat dabei seine eigene Geschichte und seinen eigenen Erfahrungsschatz. Wie gehe ich als Jugendlicher mit dem omnipräsenten Fussballkult um? Was bedeutet es, wenn der ursprünglich englische sogenannte «Weltfussball», der eigentlich gar kein Weltfussball ist, sondern sich eher als das versteht, plötzlich im arabischen Katar stattfindet und ein «Weltfussballer» die Trophäe in einem «Bischt» entgegennimmt, den er vermutlich vorher noch nie getragen hat? Als ich früher in der Knabenkantorei auf Konzertreisen war, sangen wir auf jeder Reise auch ein Lied aus der Region, die wir besuchten. Die Gastgeber nahmen diese Geste immer sehr positiv auf und niemand wäre auf die Idee gekommen, daran irgendetwas extrem stossendes zu sehen, auch wenn wir diese Stücke vermutlich oft nicht sehr authentisch wiedergeben konnten. Manchmal ist es auch frappant zu beobachten, wie man auf die eigene kulturelle Herkunft reduziert wird. Mein Stück «dito» (Link), das eindeutig in einem «latinähnlichen» Groove steht und eine Art persönlicher Ausdruck meiner Faszination für lateinamerikanische Musik ist, wird im Internet ernsthaft auf gewissen Seiten als «Swiss Jodel» bezeichnet, obwohl es mit Jodel überhaupt nichts zu tun hat; oder vielleicht doch, und ich habe es bisher nicht bemerkt? Wir können in unserem Leben gar nicht anders, als uns «Kultur zu eigen» machen. Die Auseinandersetzung mit unserer Welt, in der wir leben, führt automatisch dazu, dass wir Antworten drauf finden müssen, welche kulturellen Phänomene uns nahestehen und welche nicht. Dabei spielt die Prägung in der Kindheit eine sehr grosse Rolle. In dieser Phase der Persönlichkeitsbildung und Identifikation entscheidet sich, welche kulturellen Verhaltensweisen für uns immer eine wichtige Bedeutung haben werden. Derart intensiv wie in der Jugendzeit, werden die Sinne vermutlich später nie mehr offen sein. Heute konnte man in der BZ lesen, dass der bekannte Pianist Rudolf Buchbinder ein neues Klavierfestival in Luzern gegründet hat, das mit einem Gymnasium zusammenarbeitet, um die hohe Kunst der Klaviermusik Jugendlichen wieder zugänglicher zu machen. Er kritisiert öffentlich, dass Musik und Zeichnen Wahlpflichtfächer sind und in China kulturelle Bildung einen wesentlich höheren Stellenwert habe. In der Schweiz liegt die Quote der gymnasialen Matur bei gut 20%. Wie sieht es also mit der kulturellen Bildung der restlichen Jugend aus? Als vor einigen Jahren ein innovativer, mutiger junger Lehrling eine Jugendsinglager besuchen wollte, das ich mitgeleitet habe, hat ihm der Lehrmeister keine Ferienerlaubnis gegeben… In jüngster Zeit sind in der Schweiz sogenannte «Educationprojekte» nur so aus dem Boden geschossen und es wird in diesem Bereich viel Geld investiert, weil viele merken, dass mit derartiger Vermittlung die Aufmerksamkeit junger Menschen für Kultur gefördert werden kann. Als Lehrperson könnte ich praktisch jede Woche eine Veranstaltung besuchen, die sich als «Vermittlungsprojekt» versteht. Ich bin jedoch seit längerer Zeit der Meinung, dass die wirklich wirksamste Vermittlung kultureller Errungenschaften vorzugsweise im Klassenzimmer oder vorwiegend in den Bildungsinstitutionen selbst stattfinden sollte. Im Idealfall gelingt es einer Lehrperson mit einer Klasse aktiv Musik zu machen und zu entwickeln, die von allen als wertvoll und bedeutsam empfunden wird. Die stilistische Frage spielt dabei nicht mal eine sehr grosse Rolle. Aber erst wenn die Schülerinnen und Schüler selbst am Klavier sitzen und versuchen, einfachste Dreiklänge zu spielen, bekommen sie einen Hauch einer Ahnung davon, was es heisst eine ganze Beethovensonate spielen zu können. Zu meiner Eigenkultur gehören Bossanovas, Sambas, Klaviersonaten, Oratorien, Eigenkompositionen, Jazzstandards, Volksmusik aller Länder und vieles andere mehr. Ich werde mir nie alle Musik der Welt aneignen können aber hoffentlich auch in Zukunft viele mir unbekannte musikalische Werke respektvoll kennenlernen dürfen. Aufgewachsen bin ich mit Michael Jackson, den Dire Straits, EAV, Bartok, Mozart, Bach, Robert Suter, Werner Misteli und Schweizer Volksmusikkantaten (um nur ein paar Beispiele zu nennen). In der Vermittlung von Musik, die mir nahesteht, bin ich seit Jahren erwiesenermassen am wirkungsvollsten. Das ist die mir persönlich angeeignete «Eigenkultur», die mich bis heute geprägt hat und auch in Zukunft prägen wird.

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