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Jürg Siegrist

Veteranentagung


Heute habe ich in meiner Funktion als musikalischer Leiter des Chorverbands beider Basel meinen ersten offiziellen Auftritt gehabt. Obwohl ich schon länger in der Chorszene aktiv bin, musste ich feststellen, dass mein Name den wenigsten der Veteranen bekannt war. Das hiess, dass ich quasi inkognito mit den öffentlichen Verkehrsmitteln inmitten von Sängerveteranen anreisen konnte. Schnell kamen wir ins Gespräch und ein Mitglied eines Männerchors erzählte mir stolz, dass sein Sitznachbar seit sage und schreibe siebzig Jahren in ihrem Männerchor singe, und dafür heute prämiert werde. Angefangen habe er mit sechzehn Jahren. Wer geht heute denn noch mit sechzehn Jahren im Männerchor singen? Niemand mehr, ein Grund dafür, dass der Altersdurchschnitt vieler Männerchöre heute bei sechzig plus liegt.

Einmal mehr beklagt sich der amtierende Landratspräsident in einer Ansprache an der Tagung über schwindende Dorfvereine. Eigentlich wäre diese Phänomen mal eine genauere Untersuchung wert. Im Dorf, wo ich wohne, hat der Turnverein eigentlich noch einen recht guten Bestand. Den Männerchor, der vor fünfzig Jahren noch aus über 50 Personen bestanden hat, gibt es schon lange nicht mehr. Dies führt unweigerlich dazu, dass der Einfluss amtierender Vereine auf das Dorfleben steigt. Wo werden denn sonst noch lokale Themen im ungezwungenen Rahmen diskutiert? Höchstens noch an Veranstaltungen, der Schule oder der Kirche. Ein Umstand, der zu einer immer grösseren Entfremdung der Bevölkerung vom eigenen Wohnort führt. Nicht gerade förderlich für das politische Klima eines Ortes.

Der Gemeindepräsident beschwört in einer originellen Rede das dörfliche Leben herauf. Manch absurde Szene aus der Vergangenheit lösen beim Publikum Gelächter aus. Die Veteranen fühlen sich sichtlich wohl in diesen Erinnerungen, die mir und wahrscheinlich manch anderen auch, wie aus einer fremden Welt vorkommen. In einem vorstädtischen Ort aufgewachsen, sind mir diese Geschichten, die mich etwas an Gotthelfs Zeiten erinnern, zwar sympathisch, mit der aktuellen Chorlandschaft haben sie jedoch nur wenig zu tun. Den Veteranen gefällts. Das ist die Hauptsache.

Nach Absprache mit der Präsidentin stimme ich „O Täler weit, o Höhen" an. Jemand ruft: „Schneller". Ich sage, sie sollen doch einfach zu mir schauen, was dann doch schnell recht gut klappt. Leider gehört das Stück nicht zum gängigen Repertoire der Männerchöre. Dafür haben einige Frauenstimmen im Zentrum den Sopran recht gut im Griff. In der dritten Strophe kriegen wir schon eine ganz passable Version hin, wenn auch meist nur einstimmig.

Anschliessend folgen die Ehrungen. Über fünfzig Jubilare hatte der Veteranenbund zu verzeichnen. Jede oder jeder einzelne wird kurz gewürdigt. Ich staune über die mannigfaltigen Fähigkeiten und Engagements, die diese Leute im Chorwesen eingesetzt haben. Unsere Choreographie beim Übergeben der Blumen und Weine, ist noch etwas unkoordiniert. Kein Wunder; die Hälfte des Vorstands hat sich ja neu konstituiert..

Plötzlich stellt sich heraus, dass der Sänger, der 70 Jahre im Männerchor singt, der Grossvater einer ehemaligen Schülerin ist, die bis heute in sehr guten Chören singt. Sicher ein Punkt, den man bei einer Untersuchung zur Schweizer Chorszene ins Auge fassen müsste. Die meisten Leute kommen nämlich durch ihr Bezugsfeld zum Chorsingen und nicht unbedingt durch Werbung. Dies ist insofern problematisch, als dass es in der Schweiz heute wesentlich weniger Chöre gibt als früher und somit der Bezug zum aktiven Chorgesang abnimmt.

Am Schluss der Veranstaltung zeige ich den Chören noch meine Version des Baselbieterlieds im Fünfvierteltakt. Wenn man neue Sängerinnen und Sänger gewinnen will, spielt auch die Literaturwahl eine wichtige Rolle, und es sollten daher nicht nur Stücke wie „Pajazzo" oder „Aus der Traube in die Tonne" in Männerchören gesungen werden, da diese Lieder doch schon etwas Staub angesetzt haben. Ich bin mir nicht sicher , ob ich mit meiner Botschaft angekommen bin. Auf jeden Fall stimmen zwei der anwesenden Männerchöre genau diese Lieder am Schluss an. Für die Veteranen ein schöner, stimmungsvoller Ausklang des Nachmittags.


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