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von Jürg Siegrist

Musikalischer Analphabetismus


In der neuesten Ausgabe der Schweizer Musikzeitung äussert sich Jürgen Oelkers äusserst treffend zu aktuellen Fragen zur musikalischen Ausbildung in der Schweiz und dem Phänomen des musikalischen Analphabetismus. Besonders spannend finde ich folgende Passage: "Durch ihre emotionale Komponente scheint musikalische Bildung nicht so recht zum täglichen Schulunterricht zu passen, wo klar umrissene Ziel und Zwecke vorherrschen." Für mich geht das Problem rund um die aktuelle Digitalisierungsdebatte jedoch noch tiefer. Ein Fach wie Musik, das im Idealfall grundlegende Elemente der ganzheitlichen, menschlichen Ausdrucksfähigkeit beinhaltet, kann nicht nur auf Kompetenzmodelle und Lehrpläne reduziert werden und ist auf Grund der Digitalisierungsprozesse gefährdet, ins Hintertreffen zu geraten. Viele Aspekte des aktiven Musizierens entwickeln sich nämlich aus dem Moment heraus und können nicht digitalisiert oder erzwungen sondern nur gefordert und - noch besser- gefördert werden. Das braucht konkretes Wissen und Können und keine Computer. Ausbildungsstätten können dafür zwar gute Rahmenbedingungen schaffen, den Prozess der musikalischen Entwicklung im Unterricht jedoch nicht direkt beeinflussen.

Tatsächlich sind die Rahmenbedingungen für eine gute, breite musikalische Förderung in unserer reichen Schweiz denkbar schlecht. Auch die Initiative Jugend und Musik konnte in diesem Kontext leider bisher nur eine Nebenrolle spielen und verliert sich in formalistischen Vorgaben zur Durchführung von Musiklagern und Musikkursen. Der absolut wichtige Diskurs über die Frage, wie wir musikalische Ausbildung in Zukunft gestalten, blieb bisher völlig aus.

An der Fachmittelschule Baselland wurde vor kurzem der Instrumentalunterricht für kostenpflichtig erklärt mit dem Effekt, dass die Schülerzahlen geradezu erodiert sind. Das ist vor allem für zukünftige Primarlehrpersonen besonders verheerend und kann in Zukunft an den Schulen unmöglich nur von Spezialisten abgefangen werden. Ich habe einen Instrumentallehrer der Musikschule auf dieses Problem angesprochen. Er sagte: "Vielleicht bleiben die jetzt an der Musikschule." Falsch! Wenn ich FMS-Klassen zu ihrer musikalischen Vorbildung befrage, habe ich es im Gegensatz zum Gymnasium mit bis zu 80% Abbrecherinnen und Abbrechern von Instrumentalunterricht zu tun. Die sind nirgends mehr und werden auch nirgends mehr Unterricht besuchen. Früher konnte ich wenigstens noch ein paar motivieren, vom attraktiven Angebot des Gratisunterrichts Gebrauch zu machen.

Von dem her hat Jürgen Oelkers recht. Volksschulen und Musikschulen müssen dringend besser zusammenarbeiten. Möglichst ab sofort!

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